Thomas von Aquin: Die »Summe der Theologie«

Thomas von Aquin: Die »Summe der Theologie«
Thomas von Aquin: Die »Summe der Theologie«
 
Thomas von Aquino gilt als der größte Theologe des 13. Jahrhunderts, ja als der Denker des Mittelalters schlechthin. Seine epochale Bedeutung liegt darin, dass er die divergierenden geistigen Kräfte des Hochmittelalters zu einer philosophisch-theologischen Synthese zu verbinden verstand, die über ihre geschichtliche Situation noch hinausweist. So hat sein Denken bis in unser Jahrhundert hinein innerhalb der katholischen Kirche maßgebende Bedeutung gewonnen: Nach seiner Heiligsprechung 1323 und der in der Gegenreformation (1567) erfolgten Erhebung zum Kirchenlehrer, zum »Doctor ecclesiae« wurde er 1879 von Papst Leo XIII. als der herausragende Lehrer der Kirche hingestellt, und alle Theologen wurden ermahnt, seiner Methode zu folgen; noch das heute geltende kirchliche Gesetzbuch schreibt vor, die Studierenden der Theologie sollen »vor allem unter Anleitung des heiligen Thomas als Meister« lernen. Auch auf evangelischer Seite hat Thomas insofern Bedeutung erlangt, als er, schon bei Martin Luther selbst, als Kronzeuge traditionell katholischer Auffassungen galt - und als solcher abgelehnt wurde; in unserer ökumenisch gestimmten Zeit geschieht dies - wie umgekehrt mit Luther -, wenn überhaupt, meist nur noch in versteckter Form. Dennoch werden solche - überschwänglich positiven oder negativen - Wertungen Thomas nicht gerecht, da sie sich bei näherem Hinsehen gar nicht auf ihn selbst, sondern auf den Thomismus beziehen, das heißt auf die von Thomas ausgehende Schultradition, die seine Philosophie und Theologie in ein System von Lehrsätzen und scheinbar zeitlosen Wahrheiten umgeformt hat. Thomas selbst aber gehört zum vorkonfessionellen christlichen Erbe.
 
Entgegen dem Eindruck, den man beim ersten Lesen seiner Schriften heute gewinnen mag, war Thomas zu seiner Zeit in mehrfacher Hinsicht »progressiv«. In Neapel, wo er mit 14 Jahren das Studium der »Freien Künste« begann, lernte er die Philosophie des Aristoteles kennen. Diese »heidnische«, dem Abendland durch arabische Wissenschaftler, vor allem Ibn Ruschd (mit lateinischem Namen: Averroes), vermittelte Philosophie stand dem christlichen Glauben von Haus aus eher fern, entsprach aber mit ihrer Weltfreudigkeit dem Lebensgefühl des aufkommenden Bürgertums der Städte. An der kaiserlichen Universität Friedrichs II. war es möglich, anders als etwa in Paris, unbehindert von kirchlichen Verboten das gesamte Werk des Aristoteles zu studieren. Dies tat Thomas gründlich, offenbar mit nachhaltiger Wirkung. In Neapel lernte Thomas auch den noch jungen Orden der Dominikaner kennen, ein Bettelorden, in den der junge Adlige 1244 gegen den Widerstand seiner Familie eintrat. Die Bedeutung die seine Aristoteles-Begeisterung und sein Ordenseintritt in der damaligen Zeit hatten, wären heute etwa damit zu vergleichen, dass sich ein Industriellensohn für »linke« Wirtschaftstheorie interessiert und einer sozialen Randgruppe anschließt.
 
Das Werk, das Thomas in einem noch nicht einmal 50 Jahre dauernden Leben hervorgebracht hat, ist schon rein quantitativ betrachtet eindrucksvoll. Es umfasst in einer modernen (noch unvollständigen) Gesamtausgabe schon 31 Bände in Foliantformat - und ist doch bewusst unvollendet geblieben. Denn nach einem offenbar ekstatischen Erlebnis am 6. Dezember 1273 soll Thomas erklärt haben: »Ich kann nicht mehr. Alles, was ich geschrieben habe, erscheint mir wie Stroh«, und hat dann bis zu seinem Tod keine Zeile mehr geschrieben.
 
Ganz grob lässt sich dieses umfangreiche Werk in vier Gruppen einteilen: erstens die Kommentare hauptsächlich zu Schriften des Aristoteles und Büchern der Bibel, zweitens die systematischen Hauptwerke: Kommentar zu den »Vier Büchern der Sentenzen« des Petrus Lombardus, dem damaligen offiziellen Theologielehrbuch; »Summe wider die Heiden«, eine Verteidigungsschrift des christlichen Glaubens gegen die Muslime, Juden und häretischen. Christen in Spanien, zu Händen von Missionaren, aber wohl auch gegen die »Pariser Heiden«, nämlich die Anhänger des Averroes in der Artistenfakultät; das genialste und bedeutendste Werk ist die »Summa theologica«, die Summe, das heißt Gesamtdarstellung der Theologie; das unvollendete »Handbüchlein der Theologie«, drittens die Quaestiones disputatae, das heißt nachträgliche Zusammenfassungen von akademischen Disputationen, die zu vorgegebenen Themen nach einem festgelegten Verfahren abliefen; es existieren sieben Disputationssammlungen von Thomas mit insgesamt 63 Quaestionen sowie zwölf Quaestiones Quodlibetales (ohne vorher festgelegtes Thema) und viertens die Opuscula (kleine Werke).
 
Die inhaltliche Spannweite dieser Schriften ist immens; sie handeln buchstäblich von allem. Auf der Grundlage eines geradezu selbstverständlichen, noch kaum durch existenzielle Gegenerfahrungen erschütterten christlichen Gottesglaubens - darin ist Thomas ganz mittelalterlicher Mensch - geht es ihm als Theologen darum, gemäß dem »Programm« des Anselm von Canterbury den Glauben zu verstehen. Er nähert sich der Theologie mithilfe der Vernunft, ist, modern gesprochen, »Intellektualist«, für den Verstehen, Erkennen und Wissen höchste Werte, ja sogar die irdische Vorform der ewigen Glückseligkeit, der unmittelbaren Gottesschau, darstellen. In der Theologie - die »heilige Lehre« genannt wird, während das Wort »Theologie« der philosophischen Gotteserkenntnis vorbehalten ist - geht es darum, »alles im Lichte Gottes zu betrachten, weil es dabei entweder um Gott selbst geht oder weil es eine Hinordnung auf Gott als Ursprung und Ziel hat« (»Summa theologica«, I 1, 7 c). Es geht also nicht um Reflexion, ein Nachdenken über die Wirklichkeit im modernen Sinn, sondern um die Betrachtung von Welt, Mensch und Geschichte gleichsam mit den Augen Gottes, oder in Thomas eigenen Worten: Die heilige Lehre ist »gleichsam die Einprägung des göttlichen Erkennens im Geist des Menschen« (»Summa theologica«, I 1, 3 ad 2).
 
Solches Verstehen aller Dinge aus ihrem höchsten Sinngrund und ihrer letzten Zielbestimmung ist dem Menschen möglich, weil die Vernunft zu seiner natürlichen, vom Schöpfer verliehenen Ausstattung gehört. Hier hat die Philosophie ihre Aufgabe als Mittel des Verstehens. Ihr wird die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, grundsätzlich beigemessen und unter der Voraussetzung, dass sie von Gott geschaffen ist, erstmals im Christentum Eigenständigkeit verliehen. Der Glaube ist zwar die Grenze philosophischer Erkenntnis, aber nicht deren Quelle. Die berühmten »Fünf Wege« zum Erweis der Existenz Gottes sind deshalb keine Gottesbeweise im eigentlichen Sinn, sondern metaphysische Beschreibungen des Wesens Gottes, die schließlich in eine münden: Gott ist »das für-sich-seiende Sein selbst« (ipsum esse subsistens).
 
Thomas gibt der aristotelischen Philosophie den Vorzug vor der neuplatonischen, auf die sich die bisherige abendländische Theologie seit Augustinus hauptsächlich bezogen hatte. Das thomanische Grundverständnis von Welt, Mensch und Geschichte sieht alles von Gott ausgehen und zu ihm heimkehren. Dieser Grundgedanke liegt auch dem Aufbau der ganzen »Summa theologica« zugrunde, er ist das aus dem Neuplatonismus stammende Exitus-reditus-Schema (Ausgang - Rückkehr). Thomas hat es sozusagen aristotelisch umgedacht und damit eine Reihe grundlegender theologischer Probleme gelöst.
 
Zunächst die Frage, wie Theologie als Wissenschaft überhaupt möglich ist. Wissenschaft heißt ja im aristotelischen Verständnis »Erkennen aus notwendigen Gründen«; was es aber in der Theologie zu verstehen gilt, ist die kontingente Geschichte mit ihren unableitbaren Ereignissen, von denen die Bibel erzählt. Angesichts dieser Problemlage dient das Schema von Hervorgang und Heimkehr als Strukturformel für Geschichte überhaupt und ermöglicht ein wissenschaftliches Verstehen der Heilsgeschichte. Sodann ermöglicht sie auch, das Zentrum des christlichen Glaubens, Jesus Christus, zu denken, nämlich als den Weg, auf dem der Schöpfer seine Schöpfung zu ihrem ewigen Ziel zurückkehren lässt. Dementsprechend lautet die Geschichtsformel des Thomas: Von Gott durch die Welt zurück durch Jesus Christus. Darin ist - ähnlich dem Konstruktionsplan einer gotischen Kathedrale, mit der man das thomanische Denken verglichen hat - alles enthalten, hochspekulative philosophisch-theologische Gedankengänge ebenso wie ganz konkrete und praktische, besonders in der Ethik als der Lehre von den menschlichen Handlungen. Dass Thomas trotz seines Anspruchs, aus der Perspektive Gottes zu denken, auch viele zeitbedingte Ansichten vertrat, ist freilich nicht weiter verwunderlich, in manchen Punkten aber - etwa seiner Sicht der Frau als »verhinderten Mann« - wegen der großen Wirkung seiner Ansichten bedauerlich.
 
Kennzeichnend für Thomas, der in erster Linie Theologe war, ist sein vernunftgeleitetes Denken. Er bewegt sich in dieser Hinsicht auf dem höchsten Niveau seiner Zeit. Das hat ihm sowohl von kirchlicher Seite den Vorwurf (und 1277 ein kirchliches Verdikt) eingebracht, er verrate das Evangelium an Aristoteles, als auch den Vorwurf, er habe die philosophische Vernunft an den Glauben ausgeliefert. Sicherlich ist das Denken, das Thomas anwendet, nicht die moderne, kritische Vernunft, die etwa im Sinne Kants ihre eigene Bedingtheit reflektiert. Das hindert Thomas aber nicht, am eigentlichen »Gegenstand« seiner Verstehensbemühungen die Grenzen seiner Vernunft zu erkennen. Die »Summe der Theologie«, in der die Vollendung der mittelalterlichen Scholastik gesehen werden kann, blieb selbst nicht nur unvollendet, sie lässt auch in ihren ausgeführten Teilen offen, was von keiner Theorie eingeholt werden kann.
 
Dr. Werner Müller
 
 
Flasch, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 31994.
 Pesch, Otto Hermann: Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie. Eine Einführung. Mainz 1988.

Universal-Lexikon. 2012.

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